Mittwoch, 26. März 2014
„Mut zu Deutschland. Für ein Europa der Vielfalt“. Das EU-Wahlprogramm der Alternative für Deutschland. Von Michael Wohlgemuth
Wie
schon vor den Bundestagswahlen analysiert Open Europe Berlin die
Wahlprogramme der deutschen Parteien, die Aussicht haben, ins
Parlament zu gelangen – diesmal im Hinblick auf die Wahlen zum
EU-Parlament (EP) Ende Mai diesen Jahres. Dabei geben wir
Informationen, keine Wahlempfehlungen. Besonders interessiert uns,
welche Grundüberzeugungen die Parteien vertreten, welche
Lösungsvorschläge für die Euro-/Staatsschuldenkrise unterbreitet
werden, ob und wie die Entscheidungsverfahren innerhalb der EU
reformiert werden sollen und welche Positionen sonst von den
jeweiligen Parteien besonders betont werden.
An
diesem Wochenende hat die neue Partei „Alternative für
Deutschland“ in Erfurt, nach anfangs turbulentem Start (Querelen
über Satzung und Posten), ein Wahlprogramm verabschiedet. Sie
finden es hier. Im Vergleich zur Bundestagswahl (in der es
eigentlich um viel mehr Themen geht) hat das Programm der AfD
deutlich zugelegt: von
vier Seiten auf 25. Nach letzten Umfragen könnte auch der
Wahlerfolg der AfD zulegen: von knapp unter fünf Prozent (und damit
ohne Sitz im Bundestag) auf über sechs Prozent (und damit auf um die
sechs Abgeordnete im EP).
Ideale
„Die
Alternative für Deutschland (AfD) will eine Europäische Union (EU)
souveräner Staaten“ – so beginnt die Präambel des AfD
Programms. Es kann nicht verwundern, dass schon dieser Satz in Erfurt
heftig debattiert wurde. Was heißt Souveränität (das alte
national-konservativ-kollektivistische Konzept der
"Staatssouveränität" oder ein liberal-individualistisches
Konzept
der "Bürgersouveränität")?
Aber
ein Parteitag ist kein staatsphilosophisches Proseminar. Und die AfD
zeigte in Erfurt auch kaum Anzeichen EU-feindlicher Deutschtümelei.
Sie „bekennt sich uneingeschränkt zu einer Europäischen Union,
die der Aufklärung sowie dem Streben der Völker nach
Menschenrechten und Demokratie gerecht wird und die die
Wertegrundlagen des christlich-abendländischen Kulturkreises
dauerhaft erhält“ (S.2). Neben Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
werden „soziale Marktwirtschaft“ und „Subsidiarität“
besonders oft betont, aber auch „Solidarität mit den wirklich
Bedürftigen“ (S.3).
Für
die AfD sind dies aber nur in Teilen tatsächliche Errungenschaften
der EU, sondern vielmehr Desiderata, die die EU nicht (mehr) einlöst.
Hauptursache hierfür sei der „Einheits-Euro“, der die EU und
ihre Grundprinzipien gefährde.
Euro-Rettung
Die
Ablehnung der Euro-Rettungsaktionen ist bekanntlich die ursprüngliche
Gründungsidee der AfD. Was sie von allen im Bundestag vertretenen
Parteien unterscheidet ist genau das: die Forderung nach einem
„geplanten und geordneten Ausstieg aus dem Einheitseuro“ (S.5).
Im Vergleich zum Bundestagswahlprogramm
wird nun die Forderung „Auflösung, zumindest aber …
vollständige währungspolitische Neuordnung des
Euro-Währungsgebiets“ etwas konkreter, in Form einer
Prioritätenliste oder möglichen Abfolge:
- „Als erster Schritt muss … jedem Land das Recht eingeräumt werden, die Eurozone zu verlassen, ohne aus der EU auszuscheiden. Davon sollten die Länder Gebrauch machen, die die Bedingungen der Währungsunion nicht erfüllen können oder wollen“.
- “Andernfalls sollten die stabilitätsorientierten Euroländer unter sich ein kleineres, am Maastricht-Vertrag angelehntes Währungssystem bilden. Dabei kann man sich an dem vor 1998 bestehenden Europäischen Währungssystem (EWS) orientieren“.
- „Wenn keine dieser beiden Lösungen erreicht werden kann, muss Deutschland den Austritt aus der Euro-Währungsunion anstreben. Auch dann würde die AfD eine Währungszusammenarbeit wie im früheren EWS anstreben“.
- „Analog zum Vorgehen bei der Einführung des Euro können beim Austritt übergangsweise Parallelwährungen getrennt für den baren und den unbaren Zahlungsverkehr eingeführt werden“.
Konkret
heißt das wohl: am liebsten wäre es der AfD, wenn Griechenland (und
andere auch nicht genannte Länder) freiwillig und im eigenen
Interesse aus dem Euro austreten. Wenn das nicht passiert, dann solle
sich ein „Nordeuro“ abspalten und als „ultima ratio“ käme
dann erst die Rückkehr zur D-Mark in Betracht.
Ob
und wie das jeweils genau gehen soll und vor allem: welche
ökonomischen und politischen Konsequenzen eine Auflösung der
Euro-Zone hätte, kann kein Wahlprogramm vorgeben. Selbst deutsche
Ökonomen sind sich da nicht einig, wie unser Gelehrtenstreit auf dem
Open Europe Berlin Blog zeigt:
- Sehr kritisch dazu ein Kommentar von Holger Schmieding hier.
- Auch sehr kritisch zu den AfD-Positionen Karl-Heinz Paqué im OEB Interview hier.
- Im OEB Interview erläutert wiederum Dirk Meyer alternative Euro-Ausstiegsszenarien und deren Alternativkosten hier.
Ähnlich
streitbar sind (auch unter Ökonomen) die weiteren Positionen der AfD
zur Euro-Rettungspolitik. Sie will (S. 6):
- den ESM auflösen (und damit Art. 136a AEUV aufheben);
- das OMT Programm sofort beenden;
- Deutschland in der EZB bei „grundlegenden Entscheidungen“ ein Vetorecht einräumen (wenn Deutschland ein Stimmgewicht entsprechend dem Kapitalschlüssel von 27% erhielte und nur mit qualifizierter Mehrheit von 75% entschieden werden könnte, wäre das die Folge);
- TARGET-2 Salden zurückführen und danach jährlich ausgleichen;
- staatliche Insolvenzverfahren einführen;
- Die europäische Bankenunion wird abgelehnt; stattdessen fordert die AfD die „Re-Nationalisierung der Stabilisierungsbemühungen des Bankensektors“. Gleichzeitig finden sich aber auch jede Menge Vorschläge zur Bankenregulierung (S.7): Aufspaltung der Großbanken, Trennbankensystem, „scharfe Bankenaufsicht und -regulierung“, „Eigenkapitalquote von mindestens 25%“ unter Einbeziehung des Risikos von Staatsanleihen u.v.m. Wie das im Rahmen eines „re-nationalisierten“ Systems gelingen soll, ohne Regulierungsarbitrage Tür und Tor zu öffnen, ist zumindest mir noch unklar.
EU-Governance
Hier
macht die AfD das Subsidiaritätsprinzip stark – auch im Sinne
einer Repatriierung von Kompetenzen (S.8). Vor allem drei
institutionelle Reformen werden in diesem Zusammenhang vorgeschlagen:
- Ein „Vetorecht der nationalen Parlamente gegen Entwürfe von Gesetzgebungsakten der EU-Organen“. Hier geht die AfD weiter als andere gemäßigt EU-kritische Parteien in Europa, die vor allem eine verschärfte Subsidiaritätsrüge einer Gruppe nationaler Parlamente („rote Karte“) fordern. Denn schon ein jedes einzelnes nationales Parlament soll verhindern können, dass (neue) EU-Gesetze oder Maßnahmen im eigenen Land gelten. Das „ordentliche Gesetzgebungsverfahren der EU“ (Mehrheiten im Rat und EU-Parlament) wäre damit effektiv ausgehebelt.
- Schließlich wird auch mehr direkte Demokratie gefordert. Ein „Bürger-Veto“ nach „Schweizer Vorbild“ soll EU-Gesetzgebung (egal welcher Art?) in dem jeweiligen Mitgliedsstaat blockieren können.
- Prozedural eher kompatibel mit gemeinschaftsrechtlicher Praxis wäre die AfD-Forderung nach einem „Subsidiaritäts-Gerichthof“ bestehend aus obersten Richtern der Mitgliedsstaaten, die von nationalen Parlamenten bestellt werden. Hier könnten Bürger und Institutionen gegen Verletzungen des Subsidiaritätsprinzips klagen.
Was
das Spannungsverhältnis zwischen Erweiterung und Vertiefung
betrifft, spricht sich die AfD für einen Vorrang der Konsolidierung
vor der Erweiterung aus; konkret sollen die Aufnahmeverhandlungen mit
der Türkei beendet werden. Als Modell dient ein Europa als
„flexibles Netzwerk der verschiedenen Geschwindigkeiten, an dem
jeder europäische Staat gemäß seinen Bedürfnissen und
Möglichkeiten teilnehmen kann“ (S. 11).
Sonstiges
Als
neues Sammelbecken für viele einst enttäuschte und jetzt wieder
engagierte Bürger hat die AfD jede Menge Meinungen zu bewältigen
und zu integrieren. Folglich finden sich auch Themen, die in einem
Wahlprogramm zum EU-Parlament auch verzichtbar gewesen wären:
Beibehaltung der Winterzeit (S. 11); die Abschaffung des deutschen
Erneuerbare Energien Gesetz EEG (S. 20); Ablehnung von
Straßengebühren in Europa (S. 22); „Lärmbelastung des
Luftverkehrs als Ärgernis“ (S. 22) oder „einheitliche Steckdosen
in allen Mitgliedsländern der EU“ (S. 25).
Zur
relevanteren EU-Wirtschaftspolitik nimmt die AfD eine etwas
mehrdeutige Position ein. Der EU-Binnenmarkt wird als Kern der
europäischen Integration begrüßt; auch wird abstrakt angedeutet,
dass „institutionelle Zugangsbarrieren“ zu Dienstleistungsmärkten
abgebaut werden sollen (S. 12); gleichzeitig sollen aber Barrieren
(etwa unter dem Label Verbraucherschutz oder Meisterbrief) „im
Ermessen der Mitgliedsstaaten verbleiben bzw. zurückverlagert
werden“.
Die
Spannung zwischen Freihandel
und „nationalem Ermessen“ zeigt sich noch deutlicher in Punkt
IV.2 „Kein Freihandelsabkommen zu Lasten Europas“. Wohl sehr zum
Verdruss der liberalen Ökonomen in der AfD hat sich der Parteitag
letztlich gegen
das laufende Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP) ausgesprochen:
„Da die Verhandlungen intransparent und hinter verschlossenen Türen geführt werden, muss befürchtet werden, dass der Schutz der europäischen Qualitäts-, Gesundheits- und Sicherheitsstandards nicht gewährleistet ist. Die Geheimhaltung widerspricht zudem unserem Verständnis einer mündigen Demokratie. Unter diesen Umständen lehnt die AfD eine Beschlussfassung über das Freihandelsabkommen mit den USA ab“.
Mit
ihren Prinzipien einer "mündigen Demokratie" und der
Forderung nach "Transparenz" (die EU geht da bei TTIP
übrigens schon weiter als in vorherigen, am Ende für alle
segensreichen Verhandlungen) liegt die AfD zwar grundsätzlich immer
richtig. Hier lehnt die Partei aber lange vor Abschluss eines
Abkommens (über das am Ende dann auch demokratisch abgestimmt werden
wird) schon jetzt ein Projekt ab, das volkswirtschaftlich und
geopolitisch auf beiden Seiten des Atlantiks immens wertvoll sein
kann.
In
der Sozial- und Einwanderungspolitik herrscht eine ähnliche
Spannung. Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit wird
als „große Errungenschaft der europäischen Integration“ begrüßt
(S.13). Arbeits- und Sozialpolitik gehörten aber zu den „nationalen
Aufgaben der Mitgliedsstaaten“. National-populistische Töne finden
sich hierbei nicht wirklich – anders als bei vielen anderen
EU-skeptischen Parteien, die im Mai antreten. Zwar wird auch von der
AfD eine „Einwanderung in deutsche Sozialsysteme“ abgelehnt
(S.15), was das aber für Einwanderer als EU-Staaten heißt, wird
nicht klar, weil hier nur generell von „Zuwanderern“ die Rede
ist. Für Asylbewerber wiederum spricht man sich für Erleichterungen
aus, auch sollen sie in Deutschland ein „Recht auf Arbeit“ haben
(S.16), was wohl heißt, dass das Verbot, zu arbeiten aufgehoben
werden soll.
Die
AfD äußert sich zudem zu Bildungspolitik, Forschung und
Entwicklung, Gleichstellungspolitik, Gesundheitspolitik, Energie- und
Umweltpolitik, Agrarpolitik, Infrastruktur- und Datenschutz mit
Positionen, die oft einen gesunden Menschenverstand ansprechen und
sich insgesamt einem ideologischen rechts- links- Schema entziehen.
Ausblick
Die
ersten Parteitage und programmatischen Gehversuche der AfD erinnern
ein wenig an die Anfangsjahre der anderen Alternativen: der Grünen.
Als etwas chaotisches Sammelbecken der vom politischen „mainstream“
Enttäuschten, die zunächst vor allem ein Thema zum Engagement
bewegt. In der AfD haben sich bisher vor allem klassisch-liberale
sowie wert-, aber auch strukturkonservative Mitglieder gegen die
Euro-Rettungspolitik versammelt. Aber „für plumpen
Rechtspopulismus gab es keine Anzeichen“, berichtete selbst
die Süddeutsche Zeitung vom Parteitag
Die
Ausweitung des Parteiprogramms über rein „Euro-skeptische“
Positionen hinaus war sicher geboten; zumal die Bürger in
Deutschland inzwischen von „Euro-Krise“ wenig fühlen und wohl
auch erst einmal nichts mehr hören wollen. Mit den Themen
Überzentralisierung und Demokratiedefizit liegt die AfD dagegen
wahlstrategisch richtig, wie auch unsere
Umfrage vor einigen Wochen gezeigt hat .
Bei
den Themen Freihandel und Zuwanderung freilich werden sich Liberale
und Konservative in der AfD wohl weiter kaum einig werden können;
und wenn im Zuge der anstehenden Landtagswahlen nicht ernsthaft
Target-2 Salden, Parallelwährungen und Auflösung des europäischen
Währungsgebiets an den lokalen Wahlständen debattiert werden,
sondern Bildungs-, Umwelt- oder Familienpolitik, könnten die
Unterschiede zwischen den (sich zumal als jeweils
„alternativ“-radikalen Varianten) liberaler oder konservativer
Weltanschauung nochmals deutlicher zeigen.
[Fußnote
für Feinschmecker: Grundsätzlich immer noch lesenswert zum
Unterschied zwischen „liberal“ und „konservativ“ F.A.
von Hayek]
Auch
wenn die AfD im EU-Parlament wenig wird ändern können – im
Gegenteil dürften die rund 20-30 Prozent EU-skeptischer Parteien von
rechts und links nur dazu führen, dass das EP dauerhaft von einer
„großen Koalition“ der beiden großen Mitte-rechts und
Mitte-links Fraktionen bestimmt sein wird – sie könnte indirekt
einiges bewegen.
Am
Ende des Wahlprogramms deutet die AfD diese indirekte Wirkung (die
auch die Grünen hatten) selbst an: „Die AfD wird der Leisetreterei
und Bagatellisierungstaktik der Altparteien keine Chance lassen. Die
AfD wird Europa zum Guten verändern, weil sie die Altparteien
verändern wird“. Ob „zum Guten“ oder nicht: zumindest ist
nicht auszuschließen, dass ein Erfolg der AfD bei den EU-Wahlen
etwas bei den „Altparteien“ links wie rechts der Mitte bewegen
könnte.
Was
genau das sein wird, bleibt abzuwarten. Vielleicht wenigstens eine
intensivere Debatte über die Zukunft Europas. Deshalb wünschte
sich schon letztes Jahr Jürgen
Habermas einen Erfolg der AfD (deren Positionen er ganz und gar
nicht schätzt).
Eingestellt
von Michael
Wohlgemuth um 14:55
-
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